Die Revolution des Beobachtens
Was wir als "Wirklichkeit" erleben, ist nicht einfach da – es entsteht erst durch die Art, wie wir es betrachten. Diese radikale Einsicht verdanken wir vor allem zwei Denkern: Gregory Bateson und Heinz von Foerster. Sie zeigten, dass Bezugssysteme nicht nur bestimmen, wie wir Informationen interpretieren, sondern dass sie die Informationen erst erschaffen.
Von Signalen zu Informationen
Stellen Sie sich vor, Sie hören ein Geräusch. Ist es Musik oder Lärm? Die Antwort hängt nicht vom Schallsignal ab, sondern von Ihrem Bezugssystem. Für den Teenager ist es der ersehnte Song, für den Nachbarn störender Krach. Das physikalische Signal bleibt dasselbe – die Information entsteht erst durch den Kontext.
Gregory Bateson brachte es auf den Punkt: Information ist "ein Unterschied, der einen Unterschied macht". Ohne ein Bezugssystem, das bestimmt, welche Unterschiede relevant sind, gibt es nur Rauschen. Erst der Kontext filtert aus dem unendlichen Meer möglicher Unterschiede jene heraus, die zu Information werden.
Die Kybernetik zweiter Ordnung
Während die Kybernetik erster Ordnung Systeme von außen beobachtet, führt die Kybernetik zweiter Ordnung eine entscheidende Wendung ein: Sie beobachtet das Beobachten selbst. Heinz von Foerster erkannte, dass wir nie neutral beobachten können – wir sind immer Teil dessen, was wir beobachten. Diese Perspektive verändert alles. Plötzlich wird klar: Es gibt keine objektive Realität "da draußen", die wir einfach abbilden. Stattdessen konstruieren wir Wirklichkeit in einem fortlaufenden Prozess der Unterscheidungen und Bewertungen. Jede Beobachtung sagt mindestens so viel über den Beobachter aus wie über das Beobachtete.
Was nicht beobachtet wird, existiert nicht
Von Foerster formulierte ein provokantes Prinzip: "Was nicht beobachtet wird, existiert nicht." Das bedeutet nicht, dass die Welt verschwindet, wenn wir die Augen schließen. Es bedeutet, dass nur das zur Realität wird, was in unserem Bezugssystem einen Platz findet.
Ein Beispiel: Für einen Biologen ist eine Wiese ein komplexes Ökosystem mit hunderten von Arten und Wechselwirkungen. Für einen Architekten ist sie potenzielle Baufläche. Für ein Kind ist sie ein Spielplatz. Die physische Wiese bleibt dieselbe – aber die Realitäten, die daraus entstehen, sind völlig verschieden. Jeder Beobachter erschafft eine andere Welt, abhängig von seinem Bezugssystem.
Die Macht der Unterscheidungen
Bezugssysteme funktionieren durch Unterscheidungen. Sie ziehen Grenzen: wichtig/unwichtig, relevant/irrelevant, System/Umwelt. Diese Unterscheidungen sind nicht naturgegeben – sie werden vom Beobachter getroffen und bestimmen, was er sehen kann und was unsichtbar bleibt.
Nehmen Sie das Beispiel einer Organisation: Ein Controller sieht Zahlen, Kennziffern und Effizienz. Ein Soziologe sieht Machtverhältnisse, Kommunikationsmuster und kulturelle Codes. Ein Psychologe sieht Motivationen, Konflikte und Gruppendynamiken. Alle beobachten dieselbe Organisation – aber sie erschaffen völlig verschiedene Realitäten durch ihre unterschiedlichen Bezugssysteme.
Die Rückbezüglichkeit: Ich und mein Bezugssystem sind eins
Hier wird es besonders faszinierend: Wir befinden uns nicht außerhalb unserer Bezugssysteme und betrachten sie von außen. Wir sind untrennbar mit ihnen verwoben. Es gibt keine neutrale Position, von der aus wir objektiv über unsere Bezugssysteme nachdenken könnten – denn dieses Nachdenken selbst geschieht bereits innerhalb eines Bezugssystems.
Diese Rückbezüglichkeit bedeutet: Ich erschaffe mein Bezugssystem, und gleichzeitig erschafft mein Bezugssystem mich. Es ist ein kontinuierlicher, autopoietischer Prozess – ein System, das sich selbst durch seine eigenen Operationen reproduziert und erhält. Meine Wahrnehmungen formen mein Bezugssystem, und mein Bezugssystem bestimmt, was ich wahrnehmen kann. Es entsteht eine kreisförmige Kausalität ohne Anfang und Ende.
Ein Beispiel: Ein Pessimist sieht überall Probleme und Hindernisse. Diese Wahrnehmungen bestärken sein pessimistisches Bezugssystem, was wiederum dazu führt, dass er noch mehr Probleme wahrnimmt. Gleichzeitig formt dieses Bezugssystem seine Identität als "realistischer" Mensch, der die Welt "so sieht, wie sie ist". Er wird zu dem, was sein Bezugssystem aus ihm macht, während er gleichzeitig dieses Bezugssystem täglich neu erschafft.
Diese Erkenntnis ist zugleich demütigend und befreiend: Demütigend, weil sie zeigt, dass wir nie vollständig außerhalb unserer eigenen Konstruktionen stehen können. Befreiend, weil sie offenbart, dass Veränderung möglich ist – wenn wir verstehen, dass wir und unsere Bezugssysteme in einem Tanz der gegenseitigen Erschaffung begriffen sind.
Die Ethik des Beobachtens
Wenn Bezugssysteme Realität erschaffen, trägt jeder Beobachter Verantwortung für die Welt, die er ins Leben ruft. Journalisten erschaffen durch ihre Berichte gesellschaftliche Realitäten. Lehrer formen durch ihre Bewertungen die Selbstwahrnehmung ihrer Schüler. Manager prägen durch ihre Entscheidungen die Kultur ihrer Organisation.
Von Foerster sprach vom "ethischen Imperativ": "Handle stets so, dass weitere Möglichkeiten entstehen." Das bedeutet: Wähle dein Bezugssystem so, dass es Leben fördert, Potenziale eröffnet und Entwicklung ermöglicht.
Praktische Konsequenzen
Das Verständnis von Bezugssystemen hat weitreichende praktische Auswirkungen:
- In der Kommunikation: Missverständnisse entstehen nicht durch falsche Übertragung von Informationen, sondern durch unterschiedliche Bezugssysteme. Erfolgreiche Kommunikation bedeutet, die Bezugssysteme anderer zu verstehen und gegebenenfalls neue zu schaffen.
- In der Problemlösung: Hartnäckige Probleme sind oft Produkte bestimmter Bezugssysteme. Ein Wechsel der Perspektive kann völlig neue Lösungsmöglichkeiten eröffnen.
- In der Führung: Gute Führungskräfte sind Meister im Gestalten von Bezugssystemen. Sie schaffen Kontexte, in denen Menschen ihr Potenzial entfalten können.
- In der Wissenschaft: Auch wissenschaftliche "Fakten" entstehen innerhalb bestimmter Bezugssysteme. Paradigmenwechsel sind letztlich Wechsel von Bezugssystemen.
Die Befreiung von der Objektivität
Die Einsicht in die Natur von Bezugssystemen kann befreiend wirken. Wenn Realität konstruiert ist, dann ist sie auch veränderbar. Wir sind nicht Gefangene einer fixen Welt, sondern Mitschöpfer der Realitäten, in denen wir leben.
Das bedeutet nicht, dass "alles relativ" ist oder dass es keine Kriterien für bessere oder schlechtere Bezugssysteme gibt. Im Gegenteil: Es bedeutet, dass wir bewusster wählen können, welche Realitäten wir erschaffen wollen. Welche Unterscheidungen treffen wir? Welche Möglichkeiten eröffnen oder verschließen unsere Bezugssysteme?
Ausblick: Das Spiel mit den Perspektiven
Leben wird zu einem kreativen Spiel mit Bezugssystemen. Wir können lernen, flexibel zwischen verschiedenen Perspektiven zu wechseln, je nachdem, was die Situation erfordert. Ein und dasselbe Ereignis kann als Problem oder als Chance gesehen werden, als Ende oder als Anfang, als Krise oder als Entwicklungschance.
Diese Flexibilität ist vielleicht die wichtigste Fähigkeit in einer komplexen, sich schnell wandelnden Welt. Nicht die "richtige" Perspektive zu haben ist entscheidend, sondern zu erkennen, dass jede Perspektive nur eine von vielen möglichen ist – und dass wir die Macht haben, sie zu wechseln.
Fazit
Bezugssysteme sind nicht nur theoretische Konzepte – sie sind die unsichtbaren Architekten unserer Realität. Sie bestimmen, was wir sehen und was uns verborgen bleibt, was möglich erscheint und was undenkbar ist. Die Erkenntnis, dass wir diese Bezugssysteme mitgestalten können, eröffnet ungeahnte Möglichkeiten für persönliche Entwicklung und gesellschaftlichen Wandel.
In einer Zeit, in der verschiedene Weltanschauungen aufeinanderprallen, ist das Verständnis von Bezugssystemen wichtiger denn je. Es hilft uns zu verstehen, warum Menschen dieselben Ereignisse so unterschiedlich wahrnehmen – und es zeigt Wege auf, wie wir trotz unterschiedlicher Bezugssysteme miteinander in Dialog treten können.
Die Kunst liegt darin, sowohl die Macht als auch die Verantwortung zu erkennen, die mit jedem Bezugssystem einhergeht. Denn letztendlich erschaffen wir alle gemeinsam die Welt, in der wir leben.